* 43 *

43. Die Brücke
Questenstein

Sie breiteten die Karte im Schnee unter dem Baum aus. Beim Auseinanderfalten knisterte das steife Papier, und auf dem weißen Schnee sah es gelb aus.

»Nein, Ullr«, sagte Jenna, »du setzt dich nicht hierher!« Sie hielt das fehlende Teil hoch. »Muss ich irgendwas Besonderes tun?«, fragte sie. »Wie zum Beispiel vereint euch wieder oder so etwas sagen?«

»Nein«, antwortete Beetle und grinste. »Es ist startklar.« Jenna ließ das runde Stück Papier los, und es flatterte langsam nach unten. Ullr schlug mit der Pfote danach, aber Jenna packte ihn und hielt ihn fest. Ein paar Sekunden lang schwebte das fehlende Teil über dem Loch, drehte sich mal hierhin, mal dahin, als überlege es, welche Richtung es einschlagen solle – dann schlüpfte es unter einem lauten »Jippie!« der Zuschauer an seinen Platz. Snorris Karte war wieder vollständig.

»Erstaunlich«, sagte Jenna. »Man sieht nicht einmal die verbundenen Ränder.«

Beetle inspizierte die Karte mit Kennerblick. »Gute Arbeit«, sagte er.

Septimus zog seine Lupe aus dem Lehrlingsgürtel und hielt sie über die Mitte der Karte. Unter dem Vergrößerungsglas sprangen die Erläuterungen ins Auge, die Snorri in sauberer Handschrift ihren Zeichnungen beigefügt hatte. Zu sehen war ein achteckiges Haus, das in zartem Grau schraffiert war. In dicken Buchstaben hatte Snorri FORYXHAUS in das Grau geschrieben. In die Mitte des Achtecks war ein Schlüssel gezeichnet, und außen um das Achteck herum ringelte sich eine riesige Schlange. Das Foryxhaus stand, wie es schien, auf einer Insel, die durch die spinnennetzartige Konstruktion einer Brücke mit dem sie umgebenden Land verbunden war. Neben der Brücke waren ein Baum und eine kleine Gestalt, auf die ein Pfeil zeigte. In winzigen Buchstaben hatte Snorri VORSICHT VOR DEM MAUTNER geschrieben. Und in der Lücke, über die sich die Brücke spannte, stand BODENLOSER ABGRUND, aber das war Septimus egal. Die Queste hatte sie nicht von ihrem Weg zum Foryxhaus abgebracht, und darüber war er so froh, dass er das Gefühl hatte, notfalls über hundert bodenlose Abgründe gehen zu können – auch wenn er liebend gern darauf verzichten würde. Einer war mehr als genug.

Jenna verharrte, nachdem sie Ullr sicher in ihrem Rucksack verstaut hatte, einen Augenblick zwischen den beiden hohen Pfeilern, die das Tor zur Brücke bildeten, und hob den Blick. Wie ein schwarzes Spinnennetz schwang sich die Brücke in die weiße Luft, und ihre dünnen Drahtseile glänzten vor Feuchtigkeit. Nebel wirbelte um Jennas Füße, und von irgendwo weit unter ihr drang ein anhaltendes, leises Wimmern herauf.

Sie schluckte schwer. Dieser Weg führte zu Nicko, sagte sie sich, und diesen Weg musste sie gehen. Sie trat auf die erste Bohle, auf der eine dünne, verharschte Schicht unberührten Schnees lag. Dahinter stieg die lange Reihe der Bohlen bogenförmig an und verschwand im Nebel. Sie fasste nach den Handläufen aus Draht. Sie waren straff gespannt und fühlten sich kalt und beängstigend dünn an. Da sie wusste, dass Septimus dicht hinter ihr war, nahm sie ihren Mut zusammen und machte einen zweiten Schritt. Die Brücke gab unter ihrem Gewicht leicht nach, und Jenna erstarrte. Ihr war klar, dass nur eine dünne Holzbohle ihren Sturz ins Nichts verhinderte, doch sie war fest entschlossen, ihre Angst nicht zu zeigen. »Alles in Ordnung«, sagte sie heiter. »Komm schon, Septimus.«

Septimus rührte sich nicht vom Fleck.

»Los«, sagte Beetle und gab ihm einen sanften Stoß. Septimus trat auf die Brücke. Jenna ging noch ein paar Schritte. Wieder schwankte die Brücke. In panischem Schrecken griff Septimus nach den Handläufen.

»Warte auf mich«, sagte Beetle, und seine Stimme klang zuversichtlicher, als er tatsächlich war. Er setzte den Fuß auf die Brücke, die erneut wackelte. Septimus wurde schlecht. Er hatte sich vorgenommen, ganz ruhig über die Brücke zu gehen, als schwebe sie nur ein paar Meter über dem Boden – doch jetzt begriff er, dass er das nicht konnte.

Jenna blickte sich zu ihm um und sah, dass seine grünen Augen vor Angst geweitet waren. »Alles klar, Sep«, sagte sie. »Der Trick besteht darin, dass man einfach einen Schritt nach dem anderen macht. Immer einen Fuß vor den anderen setzen, nur daran darfst du denken. Es spielt keine Rolle, wie lange es dauert – wir wissen, dass wir drüben ankommen. Nur immer einen Fuß vor den anderen setzen, klar? Es ist ganz leicht.«

Septimus nickte. Sein Mund war zu trocken zum Sprechen. Wie drei Schnecken, die über eine Wäscheleine krochen, bewegten sie sich vorwärts, und Jenna zählte die Schritte. »Eins ... zwei ... drei ... vier ... fünf ... so ist es richtig, Septimus, du machst das prima. Sieh mal, wie viel wir schon geschafft haben ... oh, nein, so habe ich das nicht gemeint ... du sollst nicht nachsehen ... geh einfach weiter, einfach weiter ... zehn ... elf ... zwölf ... dreizehn ...«

Septimus gehorchte und setzte brav einen Fuß vor den anderen wie eine von Ephaniahs mechanischen Puppen. Ohne zu blinzeln, blickte er stur geradeaus in den Nebel. Das Bild, das sich seinen Augen bot, blieb seltsam unverändert – immer ein paar Meter Brücke, die sanft anstieg und dann im Weiß verschwand. Manchmal zerriss eine Windböe den Nebel und enthüllte ein längeres Stück, doch Septimus sah es nicht, denn jedes Mal, wenn es passierte, schloss er die Augen, bis die Brücke wieder zu schwanken aufhörte.

Doch auch mit geschlossenen Augen hörte er das schreckliche Wimmern und die verzweifelten Schreie, die aus der bodenlosen Tiefe zu ihnen heraufdrangen. Je weiter sie, mit tauben Fingern die eisigen Handläufe umklammernd, auf den schwankenden Bohlen vorankamen, desto lauter und verzweifelter wurden die Schreie. Beetle beunruhigten sie mehr als die Brücke, und so begann er, seine sehr eigene, misstönende Version eines alten Liedes zu singen, das in der Burg sehr beliebt war: »Was kostet das Wiesel im Fenster?« Zum allerersten Mal hatte Septimus nichts dagegen.

Und so setzten sie, begleitet von Beetles Gebrumme – das bisweilen nur schwer von dem Gejammer aus der Tiefe zu unterscheiden war –, immer einen Fuß vor den andern und erklommen den immer weiter ansteigenden Bogen. Sie waren wahrscheinlich noch nicht länger als eine Viertelstunde auf der Brücke, als Jenna sagte: »Es wird flacher. Spürt ihr es? Wir müssten gleich auf dem höchsten Punkt sein.«

Bei dem Ausdruck »höchster Punkt« hatte Septimus plötzlich die Vorstellung, dass sie irgendwo im Nichts hingen. Die schwindelerregende Abwesenheit der Erde stieg von seinen Fußsohlen hinauf in seinen Kopf. Alles drehte sich. Er schwankte, kippte nach hinten und – wurde von Beetle aufgefangen. Das Lied vom Wiesel verstummte. »He, Sep, ruhig Blut! Immer sachte!«

Septimus war zu keiner Bewegung fähig. Er klammerte sich so fest an die Handläufe, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Jenna spürte, wie seine Angst auf sie übersprang. Ein langes, trauriges Klagen wehte aus dem Abgrund herauf, mal lauter, mal leiser, als erzähle es die einsame Geschichte der verlorenen Seelen, die dort im Nebel wohnten. Septimus lauschte verzückt. Er verspürte das sehnsüchtige Verlangen, sich in das weiche Kissen des Nebels fallen zu lassen und sich mit den Stimmen da unten zu vereinen. Er lockerte seinen Griff an den Handläufen. Im selben Augenblick hob sich eine Nebelschwade, und Jenna sah einen großen schwarzen Vogel über sie hinwegfliegen. Vor Überraschung hielt sie den Atem an.

Septimus erwachte aus seiner Benommenheit. »Jenna ... was ist das?«, krächzte er.

»Nichts, Sep.« Aber der Vogel hatte sie auf einen Gedanken gebracht.

»Sep, erinnerst du dich an den Flug-Charm?«

Bei Jennas Worten hatte Septimus das Gefühl, dass sich der Nebel in seinem Kopf lichtete. Er erinnerte sich daran, wie es war, wenn er den Charm in der Hand hielt, wenn die silbernen Schwingen auf dem Pfeil flatterten wie die Flügel eines winzigen Vogels und der Charm in seiner Hand surrte. Und während er daran zurückdachte, fühlten sich seine Füße auf einmal viel leichter an und nicht mehr so schwer, als seien sie an den wackligen Bohlen der Brücke festgemacht. Seine Beine waren nicht mehr wie Pudding, und die klagenden Stimmen in der Tiefe verlockten ihn nicht mehr, in den Nebel zu springen. Während hinter ihm wieder lauthals das Wiesellied angestimmt wurde, machte er einen Schritt vorwärts.

»Los, weiter«, sagte er. »Wir sind bald da.«

Septimus sah das Ende der Brücke nicht – er sah nur den Flug-Charm vor sich, sonst nichts. Doch als Jenna und Beetle die letzten Meter der Brücke hinabstiegen, tauchte nach und nach die karge Silhouette des Foryxhauses aus dem Nebel auf.

»Es ist riesig«, sagte Jenna.

Beetle ersetzte das Wiesellied durch einen lang gezogenen, leisen Pfiff.

Mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung trat Jenna von der Brücke. Als sie sich hinkniete, um Ullr aus dem Rucksack zu befreien, merkte sie, dass ihre Augen vom Foryxhaus förmlich angezogen wurden. Es bot einen beängstigenden Anblick. Mehr wie eine Festung denn wie ein Haus ragte es vor ihnen empor, eine abstoßende Masse von Granitblöcken, die auf einem Felsen thronte. Wie auf Snorris Zeichnung bestand es aus einem hohen, achteckigen Gebäude in der Mitte, flankiert von vier achteckigen Türmen, die in den milchig weißen Himmel wuchsen und deren Zinnen von einer tief hängenden Schneewolke verborgen wurden. Ein paar kleine Fenster durchbrachen die glatte graue Fassade, aber sie schimmerten in einem sonderbaren Glanz – wie Öl auf Wasser. Jenna erinnerten sie an die Augen einer alten blinden Katze, die sie und ihre Freundin Bo einmal bei sich aufgenommen hatten.

Angespornt von der einundzwanzigsten Wiederholung des Wiesel-Liedes hatte Septimus schließlich das Ende der Brücke erreicht. Er trat von der letzten wackligen Bohle, und in einem Gefühl überschwänglicher Freude – er hatte es geschafft! – ließ er das Bild des Flug-Charms verblassen. Die Füße wurden ihm wieder schwer, und seine Stiefel hafteten wieder fest auf dem Boden. Unter Schmerzen versuchte er, seine Finger zu strecken, mit denen er die eisigen Handläufe umklammert hatte, doch sie gehorchten ihm nicht. Er schob die kalten Hände in die Taschen, und der Questenstein schlüpfte in seine rechte Hand und schmiegte sich an sie. »Er ist warm!«, entfuhr es ihm.

»Wovon redest du?«, fragte Jenna. »Es ist eiskalt.«

Septimus antwortete nicht.

Sachte nahm ihn Jenna am Arm und zog ihn vom Rand des Abgrunds weg. »Komm, Sep, lass uns weitergehen.«

Aber Septimus hatte etwas zu sagen und wusste nicht, wo er anfangen sollte. Also nahm er seine zur Faust geballte Hand aus der Tasche und öffnete sie – darin lag der Questenstein. Er leuchtete jetzt in einem hellen Orangerot und strahlte in der weißen Umgebung wie ein Signalfeuer.

»Was ist das denn?«, fragte Beetle misstrauisch.

»Ha«, lachte Jenna. »Das ist ein magischer Handwärmer. Das hättest du uns sagen können, Sep, wir könnten alle einen gebrauchen.«

»Das ist kein Handwärmer«, brummte Septimus.

»Nein«, sagte Beetle und starrte auf den Stein. »Du hast ihn vor uns versteckt, Sep.«

»Was versteckt?«, fragte Jenna.

»Den Questenstein«, antwortete Beetle. »Er hat den Questenstein. Sep ... warum hast du denn nichts gesagt?«

»Weil wir auf der Suche nach Nicko und Snorri waren, nur das war wichtig. Und ... na ja, weil ich zuerst dachte, es sei belanglos.«

»Du hast den Questenstein gezogen, und du hast gedacht, das sei belanglos?«, fragte Beetle entgeistert.

»Jetzt hör aber auf. Ich wusste ja gar nicht, dass es der Questenstein war, als ich ihn nahm. Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn doch nicht genommen. Hildegard gab ihn mir kurz vor unserer Flucht aus dem Zaubererturm. Sie sagte, es sei ihr Glücksbringer.«

»Nun, ihr Glücksbringer ist es offensichtlich nicht«, erwiderte Beetle gereizt.

»Und es war auch nicht Hildegard«, sagte Septimus.

»Wovon redet ihr?«, fragte Jenna säuerlich. »Wer war nicht Hildegard? Raus mit der Sprache.«

»Hildegard war nicht Hildegard«, antwortete Beetle nicht besonders hilfreich.

»Beetle!«, protestierte Jenna und durchbohrte ihn mit ihrem Prinzessinnenblick.

»Er hat recht«, kam Septimus Beetle zu Hilfe. »Ich habe mir den Augenblick immer wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen – den Augenblick, als ich den Stein nahm. Marcia sagt, dass man von Fremden niemals Glücksbringer annehmen soll, aber ich hielt Hildegard nicht für eine Fremde. Aber sie stand neben der Questenurne, nicht? Und ich sah das Gespenst in der Urne. Ich vermute, dass das Gespenst in dem Moment, als Tertius Fume den Turm unter Belagerung stellte, aus der Urne herauskam und in Hildegard fuhr. Es war so dunkel, und es herrschte ein großes Durcheinander – da hätte alles Mögliche passieren können.«

Jenna sah Septimus verwirrt an. »Aber warum hast du uns nichts davon erzählt?«

»Na ja ... als ich merkte, dass ich ihn hatte, dachte ich wirklich, alles sei in Ordnung, wenn ich aus der Burg und vor den Questenwächtern flüchtete, wie Marcia mir geraten hatte. Ich dachte, wir könnten uns gemeinsam auf die Suche nach Nicko und Snorri machen und die Queste Queste sein lassen. Aber dann hat er sich grün verfärbt...«

» Wer hat sich grün verfärbt?«, fragte Jenna.

»Na, der Stein. Am Anfang war er blau, aber dann, als wir in der Hütte waren, stellte ich fest, dass er grün geworden war, genau wie Alther es vorausgesagt hatte. Und da begriff ich, dass ich auf der Queste war.«

»Und warum hast du uns nichts davon erzählt?«

Septimus brauchte eine Weile, um zu antworten. »Ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht. Es tut mir leid. Wir folgten Snorris Karte, und alles fing so gut an, dass ich dachte ...« Septimus spürte, dass ihm die Worte ausgingen. Er fühlte sich schrecklich, so als habe er seine besten Freunde hintergegangen.

»Nicht doch Sep, ist schon in Ordnung. Trotz allem werden wir Nicko retten, nicht wahr?«, sagte Jenna.

»Nein«, fuhr Beetle dazwischen. »Das hat jetzt nichts mit Nicko zu tun. Wir sind mit Sep zusammen, und Sep ist auf der Queste. Er hat keine andere Wahl. Sobald du genommen den magischen Stein, du nimmer der Herr deines Willens kannst sein. Stimmt doch, Sep, oder?«

Septimus nickte unglücklich.

Jenna schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein! Auf gar keinen Fall. Wir sind auf unserer Queste – auf der Suche nach Nicko. Und seht doch, wir haben es geschafft.« Sie deutete auf die großen achteckigen Türme, die aus dem Nebel ragten. »Da ist das Foryxhaus.«

Beetle blieb hart. »Das wissen wir nicht«, sagte er. »Wir wissen überhaupt nichts mehr. Wie ich schon gesagt habe, mit Sicherheit wissen wir nur, dass wir bei Sep sind, und Sep ist auf der Queste. Ach ja ... und noch eine Kleinigkeit...«

»Was denn?«, fragte Jenna leise, überrascht über Beetles Zornausbruch.

»Dass noch nie jemand von der Queste zurückgekehrt ist.«

Es wurde ganz still.

Septimus war schrecklich zumute. »Es ... es tut mir leid«, murmelte er. »Wirklich sehr leid.«

Ein paar vereinzelte Schneeflocken fielen vom Himmel. Jenna wischte sie sich wütend von den Wimpern. In der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu entdecken, dass Nicko tatsächlich hier war, hob sie den Blick zu der Granitfestung, die weit über ihnen drohend aus dem Nebel ragte. Eine Schar Raben flog krächzend von einem der Türme auf, als sie zu den blinden Fenstern spähte. Sie fröstelte und zog ihren Mantel enger. Ullr miaute jämmerlich und rieb sich, das Fell gesträubt, an ihrem Bein.

Schließlich sagte sie: »Nun, selbst wenn wir auf irgendeiner blöden Queste sein sollten, so ändert das nichts. Wir erledigen die Sache und kehren zurück – mit Nicko. Denen werden wir’s zeigen.« Damit stapfte sie, dicht gefolgt von Ullr, den gewundenen Pfad hinauf.

Beetle und Septimus folgten ihr.

»Tut mir leid«, sagte Septimus nach ein paar Minuten. »Ich hätte euch von dem Stein erzählen sollen.«

»Ja«, erwiderte Beetle. »Das hättest du tun sollen.« Und abermals ein paar Minuten später fügte er hinzu: »Aber das hätte nichts geändert. Ich wäre trotzdem mitgekommen.«

»Danke, Beetle.«

»Und Jenna auch«, sagte Beetle.

»Ja«, sagte Septimus. »Ich glaube nicht, dass ich sie davon hätte abhalten können.«

»Ich glaube nicht, dass man Jenna von irgendetwas abhalten kann«, sagte Beetle mit einem Grinsen. »Nicht, wenn sie sich einmal entschlossen hat.«

Auf halbem Weg blieb Jenna stehen und wartete auf Septimus und Beetle. Mittlerweile schneite es kräftig, und die einzige Farbe auf der ganzen Welt schien das Orangerot des Questensteins zu sein, der in Septimus’ Hand leuchtete, als er mit Beetle aus dem Nebel auftauchte.

»Wisst ihr«, sagte sie, »dieser Ort erinnert mich an eine Geschichte, die mein Vater uns immer erzählt hat. Sie handelt von müden Reisenden, die im Nebel zu einem riesigen Turm hinaufklettern. Sie gelangen an eine Tür, um die herum überall seltsame Kreaturen geschnitzt sind, und ziehen am Klingelzug. Nach einer halben Ewigkeit öffnet eine kleine bucklige Gestalt, die sie stundenlang anstarrt und dann mit richtig grusliger Stimme fragt: ›Jaaaaaaaa?‹ Erinnerst du dich, Sep?«

»Nein«, antwortete Sep. »Ich war zu der Zeit in der Jungarmee – wahrscheinlich saß ich in einer Wolverinenfalle, während du Gutenachtgeschichten gelauscht hast.«

»Oh, entschuldige, Sep. Manchmal kommt es mir so vor, als ob wir immer zusammen gewesen wären.«

»Ich wünschte mir, es wäre so«, sagte Septimus leise. Manchmal versuchte er sich vorzustellen, was er alles versäumt hatte, aber das war nicht gut. Dabei überkam ihn immer eine Traurigkeit, die schwer abzuschütteln war.

Sie marschierten zusammen weiter, bald jedoch wurde der Weg enger und sie mussten hintereinandergehen. Außerdem wurde er steiler und schlängelte sich innen und außen um Felsvorsprünge herum. Je höher sie kamen, desto kälter wurde es, und irgendwann hatte Beetle das Gefühl, dass sie fast oben waren. Er machte sich auf den Anblick der Schlange gefasst, die sich auf Snorris Zeichnung um den Turm ringelte.

Sie musste riesig sein, überlegte er und fragte sich, was sie wohl fraß – und da beschloss er, nicht länger darüber nachzudenken. Seine Laune wurde davon nicht besser.

Jetzt wurde der Weg wieder breiter und flachte ab. Ihre Stiefel knirschten auf feinem Schotter, als sie sich dem glatten weißen Marmor der breiten Terrasse näherten, die das Foryxhaus umgab. Auf der Terrasse blieben sie stehen und schöpften Atem. Der Nebel vor ihnen vermischte sich so mit dem wirbelnden Schnee, dass der graue Granit des Foryxhauses kaum noch auszumachen war. Sie sahen einander an. Wo war die Schlange?

Leise schlichen sie über den schlüpfrigen Marmor der Terrasse. Septimus hielt den Questenstein hoch, und wie ein Leuchtfeuer führte er sie durch das Weiß bis zum Fuß einer breiten Treppe mit flachen Stufen.

»Wartet hier«, flüsterte Septimus. »Ich seh mich mal nach der Schlange um.«

»Nein«, erwiderte Jenna. »Wir gehen alle zusammen. Findest du nicht auch, Beetle?«

Beetle nickte widerstrebend. Er hasste Schlangen. »Einverstanden«, sagte er.

Vorsichtig stiegen sie die Stufen hinauf, und Septimus ging mit dem Questenstein voraus und wies ihnen den Weg. »Hier ist keine Schlange«, meldete er aus dem Nebel. »Nur eine große alte Tür mit vielen komischen Schnitzereien drum herum.«

»Keine Schlange?«, fragte Beetle, nur um ganz sicher zu gehen.

»Keine Schlange«, kam von Septimus zurück, »nicht mal eine kleine aus Lakritze.«

Septimus Heap 04 - Queste
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